Das Ei ist eine geschissene Gottesgabe
BRD 1993, R+B: Dagmar Wagner, 90 Min.
Das ist der Stoff aus dem große Filme sind: Eine lange, wechselhafte Lebensgeschichte. Leid, Tod und Verbrechen. Ferne Gegenden mit fremden Zungen, Helden die Übermenschliches leisten. Die 78-jährige Bäurin Sophie ist diese Heldin in Dagmar Wagners fantastischem Dokumentarfilm. Tuberkulose raffte zu Anfang des Jahrhunderts die Hälfte ihrer Familie hinweg, der Mann zerstritt sich mit dem Sohn und verschwand - aber Sophie meint, sie hätte sowieso nie einen Mann gebraucht, sei immer gut alleine zurecht gekommen. So lebt sie jetzt in dem 130 Jahre alten, unkomfortablen Hof im bayrischen Voralpenland (der Film kommt gerademal ohne Untertitel aus), treibt morgens um sechs die Kühe auf die Weide, backt Brot, verkauft, obwohl vom Ordnungsamt untersagt, Eier und selbstgebrannten Schnaps.
Selbstverständlich fährt die dürre, gekrümmt aber energisch einher schreitende Frau selbst mit dem Landrover zum Kirchgang. Wenn sie bei Aussteigen die Handbremse vergißt, liegt das bestimmt nur an der anwesenden Kamera. Ihren Lebensabend hat sie sich schon anders vorgestellt. Mit den Asylanten, die ihr Sohn nebenan einquartiert ("Mit denen ist es besser als mit Deutschen, wenn die nicht spuren, fliegen sie raus," sagt er), kommt sie gut zurecht, wird von ihnen Oma genannt. Doch immer wieder neue Fremden auf dem Hof, das gefällt ihr nicht. Aber wie alles nimmt ihre Schicksalsergebenheit auch dies leicht: "Der Mensch denkt, Gott lenkt." Nur wenn sie über ihren Mann redet, zeigt sich noch nach langer Zeit Bitterkeit im Gesicht. Ansonsten geht es ihr sichtbar gut mit den Katzen, mit dem taubstummen Gehilfen am Mittagstisch.
Die beiden Wirte eines benachbarten Alm-Restaurants, das den Auftrieb der Schickeria Münchens mit Daimlers und BMWs erlebt, können da nur Staunen: Diese Frau stammt aus einer anderen Welt oder einer anderen Zeit. Daß macht sie - und 'ihren' Film - für ein junges Publikum so reizvoll: Ihre unfaßbare Zufriedenheit ganz ohne all die Ziele oder Zweifel, die heute viele antreiben oder lähmen. Dagmar Wagner fragt angesichts der anderen Menschen nach der Vergangenheit und Zukunft dieses Lebens und dieser Gegend. Ein deutsches Filmwunder.
Eine Kritik vonGünter H.Jekubzik
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