Lamerica
I/Fr 1994, Regie Gianni Amelio, 115 Min.
Von Günter H. Jekubzik
"Lamerica", der neue Film von Gianni Amelio begeisterte in den letzten Monaten Festival-Publikum und -Jurys. Der italienische Regisseur gewann 1994 in Venedig den Regiepreis und erhielt in Berlin den "Felix" als bester europäischer Film - übrigens zum dritten Male in vier Jahren, weswegen Wim Wenders als Vorsitzender der Preis-Kommission die Namensänderung von "Felix" in "Gianni" vorschlug. Am Dienstag erlebte Köln die Deutschland-Premiere von "Lamerica" in Anwesenheit des Regisseurs, bevor "Lamerica" am 23. März bundesweit startet.
Zwei elegante Italiener suchen im vom kommunistischen Regime befreiten Albanien für den Vorsitz einer neu zu gründenden Schuhfabrik eine Marionette. Unbedarft bis einfältig soll sie sein, anti-kommunistische Widerstandskämpfer wären ideal. Die neuen Herrenmenschen des Kapitalismus durchstöbern elende Gefangenenlager. Hohle Augen, in denen höchstens Funken von Angst aufleuchten, vermitteln eine Ahnung von den hier stattgefundenen Grausamkeiten, die allerdings an italienischen Maßanzügen abprallt. Der Unternehmer Fiore (Michele "Allein gegen die Mafia" Placido) und sein junger, unsympathisch elitärer Gehilfe (Enrico Lo Verso, der "Kinderdieb" aus Amelios "Il ladro di bambini") finden einen alten, verstörten Mann, der allerdings nach einer ersten Unterschrift verschwindet. Yuppie Gino nimmt die Suche in den albanischen Bergen auf, läßt sich bis auf das Bewußtsein "Ich bin Italiener" alles von bettelarmen Albaniern klauen. Der junge Schnösel und der achtzigjährige Spiro machen sich jetzt gemeinsam auf den Heimweg. Bei der Annäherung stellt sich heraus, daß auch Spiro Italiener ist: Als junger Mann desertierte er wie viele andere und tauchte als Albaner unter. Geistig glaubt er sich immer noch in seiner Jugendzeit, will zurück zu seiner Verlobten nach Sizilien.
Wie schon in Gianni Amelios letztem Meisterwerk, "Il ladro di bambini" (Gestohlene Kinder), bringt eine Reise den Figuren existentielle Veränderungen. Gino verliert nicht nur äußerlich seinen Paß, seine Identitäts-Bescheinung. Der anfangs fürchterlich hochnäsige Italiener gleicht sich immer mehr den von ihm so verachteten Albanern an. Gino versteht nicht nur die Elenden, er wird einer von ihnen, geht in der Masse der Flüchtlinge unter, deren Tragödie auf den überfüllten Schiffen im Hafen von Bari durch die Weltpresse ging.
Der Film könnte in der Tradition von Roberto Rossellini auch "Albania - Anno Zero" heißen und ähnelt in der ergreifenden Darstellung von Heimatlosigkeit zwischen blutigen (Wohlstands-) Grenzen den Werken des Griechen Theo Angelopoulos. In vielen unvergeßlichen Szenen erzählt Amelio vom Leben in diesem unter dem Regime Enver Hoxhas so geschundenen Land, von dem prekären italienisch-albanischen Verhältnis, das mit seinem extremen Armutsgefälle mitten in Europa stellvertretend für die Weltsituation ist. Als Geschichtsnachhilfe beginnt "Lamerica" mit Wochenschau-Berichten von der Besetzung Albaniens durch das faschistische Italien. "Lamerica" steht - bewußt nicht in der korrekten Schreibweise "L'America" - für eine universale Sehnsucht nach dem besseren Leben, die bei albanischen Flüchtlingen ebenso vorhanden ist, wie früher bei sizilianischen Amerika-Auswanderern.
Eine Kritik vonGünter H.Jekubzik
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