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Lola rennt

BRD 1998 (Lola rennt) Regie, Buch und Musik Tom Tykwer, 85 Min. Running Time (Rennzeit)

Polente jagt Potente

"Nach dem Spiel ist vor dem Spiel" S. Herberger

Tempo, enormes Tempo. "Lola rennt" ist das, was tatsächlich einen großen Teil des Films geschieht. Ihr Freund Manni (Moritz Bleibtreu) hat ein Ding verpatzt und braucht nun 100.000 Mark - in den nächsten zwanzig Minuten, sonst wird ihn der Boß kaltmachen. Eine bekannte Ausgangssituation, diesmal exzellent rasch in Szene gesetzt. Lola (Franka Potente) beschwört ihn am Telefon, nicht wegzugehen und rennt los. Manni sieht den Supermarkt gegenüber und nimmt sich vor, den um Punkt Eins auszurauben.

Lola rennt: die Treppe runter, hetzt durch Berliner Straßen, springt über ein Auto, das plötzlich aus einer Ausfahrt kommt und stürzt in die Bank ihres Vaters (Herbert Knaup). Der klärt gerade das weitere Leben mit seiner noch heimlichen Geliebten (Nina Petri) und ist aus mehreren anderen Gründen nicht bereit, 100.000 rauszurücken. Lola rennt weiter und kommt um Sekunden zu spät ...

Ganz wie Badhams Thriller "Nick of Time" hält sich die erzählte Zeit streng an die Erzählzeit. Daß nach 20 Minuten doch noch nicht alles vorbei ist, verdanken wir Tykwers genialem und witzigen Spiel mit dieser einen Handlung. Im dreifachen Durchgang entwirft er ein reizvolles Spiel mit Zufällen, Entscheidungen und anderen Handlungselementen, die oft nur eine beiläufige Rolle spielen. Diesmal laufen diese Momente mit Lola mit, eilen ihr voraus oder bleiben ungenutzt zurück. So wird der erfrischend kurze Film gerade spannend, weil er dreifach fast das Gleiche erzählt!

Formal könnte "Lola rennt" der Entwurf zu einem interaktiven Film oder einer CD-ROM mit vielen wählbaren Handlungsverläufen sein. Die rennende Lola rempelt Passanten an und stößt bei ihnen die eigenen Geschichten los, die in rasanten "Flash Forward Fotoserien" kurz angerissen werden. In jeder Version entwickeln sich auch andere Nebenepisoden bei den gleichen Randfiguren. Statt zu irritieren, macht diese Form so viel Spaß, daß man richtig beleidigt ist, wenn mal eine Figur ausgelassen wird. Und keine dieser Zusammentreffen ist belanglos, alles hängt zusammen. Tykwer akzentuiert die Nebenschienen mit grob aufgelöster Videoqualität. Trotzdem wirkt solch ein tragischer Lebensverlauf im beiläufigen Zeitraffer extrem grausam.

"Lola rennt" ist nicht nur ein raffinierter Zeit-Film, er ist auch rasanter Techno-Film mit Comic-Einlagen, wirbelnder Kamera und ungewöhnlichen Schnitten. Kostete der Vorgänger "Winterschläfer" noch sehr detailliert den Moment aus, genießt Tykwers Neuer einen Geschwindigkeitsrausch mit sehr passender, extra von Tykwer und Kollegen komponierter Musik. Die Stimme des immer wiederholten "I wish I was" (Ich wünschte, ich wäre) stammt übrigens auch von der Lola-Darstellerin Franka Potente, die mit knallroten Haaren und grüner Hose zu einer modernen Ikone wird. Eine zweite, nicht ganz so brutale Lara Croft, die in dem Playstation-Spiel "Tomb Raider" berühmt wurde.

So eine Versuchsanordnung mit drei Situationen, in denen eine minimale Differenz - kriegt er den Zug? - scheinbar lebensentscheidende Folgen nach sich führte, realisierte auch Kieslowski. Nur spielte er in "Der Zufall möglicherweise" die Möglichkeiten im Polen der Militärdiktatur durch und alles endete in der gleichen Katastrophe. Kieslowski gab sich als Pessimist: "Nichts ändert nichts!" Tykwer gibt Lola die Kraft, etwas zu ändern. Lola kann noch mal von vorn anzufangen, falls alles völlig in die Hose gegangen ist.

Lola könnte ihren Namen von Ophuls "Lola Montez" geerbt haben, Tykwer dürfte es sich angesicht seiner nun mehrfach bewiesenen Filmkunst jedenfalls erlauben, den Meister optischer Räusche zu zitierten. Und noch ein Stück deutscher Film macht sich hörbar: Lolas Schreie der Verzweiflung sprengen Glas wie einst die Stimme von Oscarbringer Oskar Matzerath und seiner "Blechtrommel". Wie damals ist "Lola rennt" auch ein Aufschrei des wirklichen Films im einfältigen deutschen Komödiensumpf.


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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