Locarno 1997

Wettbewerb

Winterschläfer

Office Killer

The Bible and Gun Club

Piazza Grande

Men in Black

Fletchers Visionen

Im Körper des Feindes

Karriere Girls

Unagi (Der Aal)

Der Geschmack der Kirsche

Die Leoparden von Morgen

Heimatgefühle

Filme

Rolling

Locarno online 97

Von Günter H. Jekubzik

Ein Festivalbericht zu Locarno fällt im Vergleich mit anderenFestivals immer aus der Rolle. Unter dem freien Kino-Himmel derPiazza Grande kommen die Elemente hoch, der Mensch setzt sich und dieKunst in Relation zu den umgebenden Naturgewalten, den Zwei- bisDreitausendern, dem riesigen Lago Maggiore. So schwelgten vieleKollegen in elementaren Betrachtungen, angesichts nicht immerbewegender Filmthemen. Aber vielleicht lag es auch daran, daßviele morgens im wilden, von gewaltigen Steinmassen geformtenMaggia-Tal sonnenbadeten, bevor sie sich ins Kino setzten? SeitFestivaldirektor Marco Müller das Programm vollstopft,läßt sich dies aber auch nicht mehr ohne schlechtesGewissen machen.

Locarno 1997, die 50. Ausgabe seit der Premiere 1946,überraschte mit der sehr erfreulichen, bescheidenen Art, einJubiläum zu feiern. Nach den pompösen, alles Filmischeerstarrenden Jubelorgien in Cannes wartete Locarno mit gutem,vielseitig interessantem Programm auf. Ganz am Rande wurde dieInfrastruktur mit neuem Eingangsbereich und Piazzabeleuchtungverbessert. Ansonsten: weiter wie gehabt. Was bei denaußerordentlichen Programm- und Erlebnis-QualitätenLocarnos nichts Schlechtes ist.

Die Leoparden-Preise verteilten sich breit über den Globus:Ein Goldener an "Ayneh" (Der Spiegel), mal wieder an eineKindergeschichte aus dem Iran. Jafar Panahi, ein SchülerKiarostamis, verfolgt den Heimweg eines kleinen Mädchen von derSchule. Auch als dieses die Dreharbeiten abbricht, geht der Film alsangebliche Dokumentation weiter. Abbas Kiarostami begeisterte 1989Locarno mit der Suche eines kleinen Jungen: "Wo ist das Haus meinesFreundes". Jetzt überreichte er seinem Nachfolger auf der PiazzaGrande den ersten Preis des Festivals. Auch Panahi ist alter einBekannter in Locarno, "Der weiße Ballon" - auch eineKindergeschichte - lief vor zwei Jahren auf der Piazza.

Silber erhielt "Gadjo Dilo" (Verrückter Fremder) von TonyGatlif. Die Geschichte eines Franzosen, der beginnt, in Rumänienmit einer Gruppe von Roma zu leben, wurde allseits wegen ihrerToleranz gelobt und mit weiteren Preisen überhäuft.Hauptdarstellerin Rona Hartner legte bei der Preisverleihung ausFreude über ihren Bronzenen-Schauspiel-Leo ein wenig Shakespeareund eines von den Gypsieliedern des Films auf die sturm- undregengepeitschte Bühne.

Nach Südafrika ging der Silberne Leopard für die Sektion"Junger Film". "Fools" von Ramadan Suleman bereitetApartheits-Vergangenheit in nicht besonders überzeugender Formauf. Suleman kommentierte diesen wichtigsten - von vielen Preisen -mit dem Wunsch, daß "nächstes Jahr mindestens drei Filmeschwarzer Regisseure aus Südafrika in Locarno laufen.

Bei den diesjährig "Leoparden von Morgen" gingen von deninsgesamt fünf vergebenen Preisen - drei weitere waren füreine Reihe Schweizer Kurzfilme bestimmt - drei an jungeÖsterreicher. Für "Ku'damm Security" des BerlinerFilmstudenten Ed Herzog gab es den Kodak-Preis, Filmmaterial im Wertevon 5.000 Franken. Mit einem kleinen Team drehte Herzog die Farceeines jungen, selbsternannten Wachmannes, der allein durch seinAuftreten Probleme schafft und schließlich bei einerWachgesellschaft angestellt wird. Herzog arbeitet seit einer Weilemit dem deutschen Filmverleiher Senator an einem Spielfilmprojekt,wodurch ein Abschlußfilm für ihn nicht zwingend auf demDrehplan steht. Woche der Kritik Schweizer Filmkritiker wählenfür diese Sektion unter der Leitung von Mariano Morace siebenaußergewöhnliche Werke zwischen Dokumentation und Fiktionaus und haben seit Jahren eine Bank für spannendeEntdeckungsreisen in die Realität. Gutes Beispiel für dieQualitäten der "Woche der Kritik" war "Rolling": Der wilde,wagemutige Inline-SkaterIvano Gagliardo wurde vor drei Jahren durcheinen Fernsehbericht Peter Entells bekannt. Der Regisseur verfolgtenun mit der Kamera, wie es mit dem damals 23-jährigenweiterlief. Der freundliche, telegene Ivano erreicht einePopulärität, die auf dem Höhepunkt mit drei Kameragleichzeitig auf ihn zurückfällt. Doch bei einem Wettkampfmit der Weltelite sieht der langhaarige Rebell schon alt aus, auchdie organisatorischen Zwänge seines Skater-Ladens ignoriert ereifrig. Der Rebell verweigert sich dem Erfolgsweg in dieGesellschaft. Nicht nur die rasanten Aufnahmen in den hügeligenStraßen Lausannes mit ganzen Gruppen von Skatern fesseln an"Rolling", auch die unaufdringliche, aber genaue Beobachtung derMenschen. Die Skater, personifiziert durch Ivano, sindAußenseiter, die mit ihrer Akrobatik und Kunst die Menschen inden Straßen beglücken und erschrecken. Ein weiteres Themader dichten Dokumentation ist das Leben von Einwanderern in derzweiten Generation und ihr Leben in Lausanne.

Der Festivaltanz Locarnos dreht sich zwischen mondänenHotelnächten und provinzieller Entspanntheit, zwischen einemProgramm mit Weltgeltung und lokalen Eitelkeiten, die sich auf denNenner "Tourismus" einigen. Das Gleichgewicht der Piazza Grandezwischen Kinohits und Filmkunst schwenkte durch "Men in Black","Face/Off" und "Conspiracy Theory" stark in Richtung Hollywood. Einimmer sehr anspruchsvolles und politisch waches Publikum aus derSchweiz akzeptierte es weitgehend. Als dann sechs nackte Britten vor7000 begeisterten Zuschauern tanzten, mußte das der Piazza-Hitwerden: "The Full Monty" sind Chippendales für Arme mitkräftigen Sheffield-Slang. Eine umwerfend komische Art, mitArbeitslosigkeit fertig zu werden.

Das allährliche Spiel Regen gegen Piazza Grande endete miteinem erfreulichen 2:10. Es überwogen die Sternstunden. DasIdeal eines guten Films ist, die Grenzen zwischen Leinwand undPublikum verschwimmen zu lassen: So entstehen auch die magischenMomente in Locarno, wenn die Realität vor der Leinwand mit derFiktion auf ihr zusammenfällt. Wenn wie vor Jahren dieSternschnuppen aus "La notte di San Lorenzo" genau in der Nacht vonSan Lorenzo (am 10. August) auch aus dem Tessiner Himmel fielen. Wenndas reale Donnern frappierend gut getimt das stürmischeLeinwandgeschehen kommentiert, die Glockentürme der Altstadtvorwegnehmen, daß jemandes Stündlein geschlagen hat unddie Fledermäuse allabendlich im Lichtstrahl der Piazza Grandeschnorren. Nur für sie müßte hier einmal "Batman"laufen.

Eigentlich sollte nach dem 50. persönlich erstmalSchluß sein mit der reizvollen Festivalaffäre zu Locarno.Doch das Zimmer für nächstes Jahr ist schon gebucht.


Eine Kritik von Günter H.Jekubzik

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